Colonia Dignidad
Besonders beeindruckend auf Reisen sind die Momente, in denen uns die Gunst der Geburt am richtigen Ort mit den richtigen Eltern bewusst wird. Ergänzend sind es auch Zufälle, die das Leben auf eine Bahn bringen können, die wir niemandem wünschen. Anfang der Sechziger Jahre war so ein Moment für die Kinder besonders gläubiger Familien, die sich von einem christlich gebenden Prediger nach Chile locken ließen. Angeblicher Grund war die Furcht vor einer kommunistischen Invasion- es herrschte kalter Krieg- und folgender Gottlosigkeit und Religionsverbot. Der Anführer und Sektengründer der evangelikalen Freikirchler war Paul Schäfer, in Wahrheit flüchtete er vor erster Strafverfolgung wegen Kindesmissbrauchs, was damals wohl keiner der Gruppe wusste. |
Es ging für mehrere Hundert Menschen aus mehreren Ländern nach Chile. Schäfer wird gewusst haben, warum. Mit 900.000,- DM Startkapital (aus dem Verkauf eines in Deutschland von der Sekte betriebenen Waisenhauses) konnte ein Anwesen bei Parral gekauft werden, die Familien bauten darauf Häuser und eine Landwirtschaft auf. Gleichzeitig begann auf Befehl Schäfers eine Trennung der Familien. Männer von Frauen, Kinder von Eltern, Familienverbund war Sünde, Verehrung des von Gott gesandten Schäfer war Gotteslob und also richtig. Das Ausmass der damit verbunden Gehirnwäsche und Quälerei ist kaum vorstellbar. Wer nicht spurte, wurde mit Elektroschocks und Psychopharmaka „behandelt“. Unten Bilder aus dem Museum mit Paul Schäfer als liebem Onkel und seinem Thron, von dem aus er Vorführungen zusah....uns gezeigt von Jürgen Szurgelies |
Aber damit nicht genug: Paul Schäfer bemächtigte sich der Jungs, also der Kinder seiner „Jünger“, zur Befriedigung seiner sexuellen Phantasien und Bedürfnisse. Jeden Tag ein anderer Junge in seinem Bett, im Laufe der Jahre wurde ein Badehaus errichtet, in dem er es „krachen ließ“ und gleichzeitig prägte er den Buben Misstrauen gegen jeden ein, besonders gegen die eigene Familie. Jeder konnte Denunziant sein, Geheimnisse durften nur mit Paul Schäfer geteilt werden. Der erlangte viele Informationen durch Beichten, die nur er abnehmen durfte.
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Eigentlich ein Paradebeispiel, wie gefährlich Religionen sein können. Diesen Schluss haben aber die Überlebenden der dunklen Zeit zwischen 1961 und 2005 nicht alle gezogen. Dazu später mehr.
Bis hin zu einem Kinofilm wurde über die Colonia in Chile, über ihre Verstrickungen mit Pinochet, Diktator für 15 Jahre im Land, in Artikeln auch immer wieder über die Wertschätzung der Anlage durch CSU-Grössen berichtet. Geflüchtete Kinder wurden dem Horror sogar von der deutschen Botschaft ausgeliefert und zurückgeführt. Auf dem Geländer wurden Regimegegner (Linke!) der Junta in Chile gefoltert und umgebracht. Alles unter dem Deckmantel oder im Namen der Religion. Wir stossen auf alte Apfelbäume, lustige mehrsprachige Schilder, einen Laubengang mit herrlichen Weintrauben und freundlich grüssende Menschen, die uns den Weg weisen und stolz ihr Elektromobil vorführen, made in China. |
Seit 1988 ist der alte Name abgelegt und die Anlage wird als „Villa Baviera“ vermarktet. Altes deutsches Brauchtum, Essen und Musik, Sitten und Gebräuche aus dem Heimatland schätzen viele Chilenen, von denen wiederum etliche deutsche Vorfahren haben. Deutsche Institutionen waren wohl auch schon da, ebenso Reporter deutscher Zeitungen und was die zu Hören bekamen, war ihnen wohl nicht recht.
Denn „rechts“, so sehen sich schon viele der langjährigen Bewohner. Und was ist „rechts“? Für Hiesige ganz einfach: gottgläubig und rechtschaffen. Später bringt uns Werner aus der Gärtnerei mit so einem flotten Wägelchen zu seinem Bruder Jürgen ins Museum, das wir erst gar nicht gefunden hatten.
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Links ist danach, wer nicht an Gott glaubt oder gegen den Glauben ist.
Wir erfahren, dass es vor der Machtergreifung Pinochets 1973 durch Putsch (unter dem demokratisch gewählten Salvador Allende, einer Lichtfigur der Linken) einen Plan „Z“ gegeben haben soll. Angeblich gab es fertig ausgearbeitete Pläne, die Bewohner der „Kolonie der Würde= Colonia Dignidad“ komplett umzubringen. Das war jedenfalls die Story der Clique um Schäfer für den kleinen Mann, die einfachen Mitglieder der Gemeinschaft. Alle mussten sich also wehren, Waffen bunkern und überhaupt Bunker bauen, es drohte ja ein Angriff. Genutzt wurden Bunker und Verliese wohl für Folterexperimente in Abstimmung mit Pinochets Geheimdienst. Heute ist hier alles friedlich und wir als Touristen dürfen gegen einen eher symbolischen Obolus von 2 € in die Anlage, immer noch von Stacheldraht umzäunt. |
Jürgen Szurgelies, eines der Opfer Schäfers, heute Mitte fünfzig und ein ausgesprochen lieber Mensch, führt uns durch das Museum zur Geschichte der Anlage. Viele Informationen haben wir von ihm, es ist schwer zu beschreiben, wie beeindruckend diese Minuten (oder waren es Stunden?) mit ihm waren. Er schildert offen, dass er Medikamente braucht, um seine Traumatisierung aushalten zu können und wir merken ihm das an. Er wurde jahrelang mit Tabletten ruhig gestellt und mit Elektroschocks „behandelt“. Unglaublich, dass er heute wieder so fit und gut drauf ist.
Allerdings besteht speziell für ihn die Aufarbeitung der üblen 40 (!) Jahre (!) auch darin, darüber zu reden und so sprudeln Geschichten aus ihm heraus, die von anderen sicher schon genauer überprüft wurden. Er ist einer der Zeugen der Verbrechen des Paul Schäfer und seiner Unterstützer, viele im Internet verfügbare Berichte zitieren ihn. Gar nicht schön, was wir hören.
Allerdings besteht speziell für ihn die Aufarbeitung der üblen 40 (!) Jahre (!) auch darin, darüber zu reden und so sprudeln Geschichten aus ihm heraus, die von anderen sicher schon genauer überprüft wurden. Er ist einer der Zeugen der Verbrechen des Paul Schäfer und seiner Unterstützer, viele im Internet verfügbare Berichte zitieren ihn. Gar nicht schön, was wir hören.
Jürgen zeigt uns zum Abschluss seiner Führung noch (von aussen) das abgesperrte Zimmer des Paul Schäfer, die Panzerglasscheibe zeigt heftige Spuren von Frustabbau…. Abgerissen wurde das Badehaus.
Einer seiner 5 Fluchtversuche und Schilderungen aus der würdelosen Colonia sollen bis zu Hans-Dietrich Genscher vorgedrungen sein. Auch daraus folgten dann Nachfragen und Ermittlungen, Pinochet war inzwischen (1988 bis 1990-gegen die überwachten Wahlstimmen vieler Bewohner der Colonia) abgewählt, blieb aber Militärchef.
Nach Jahrzehnten übler Machenschaften flüchtete Psychopath Schäfer nach Argentinien, wurde Jahre später nach Chile ausgeliefert und verurteilt. Er starb nach fünf Jahren im Gefängnis in Santiago. Einer seiner in Chile verurteilten Mittäter konnte nach Deutschland fliehen, wo er bis heute im Ergebnis unbehelligt lebt. |
Wem die Anlage heute gehört und wieviel die Bewohner wirklich zu sagen haben, wird uns nicht richtig klar. Deutsche Behörden wollen wohl noch einiges aufklären, besonders die Verwicklung der deutschen Botschaft. Unsere Prognose: Das wird nix, besonders die heutigen Bewohner sind auf (ungläubige) Aufklärer von aussen nicht besonders scharf. Wer will es ihnen verdenken?
Einige ehemalige Bewohner haben die Anlage verlassen, sind nach Deutschland gegangen oder leben irgendwo in Chile. Ob sie Schadenersatz bekommen oder verlangt haben, wir wissen es nicht. |
Andere leben hier weiter und geniessen neue Freiheiten, leben verheiratet und weiterhin streng gottesfürchtig. Kommunisten, überhaupt Linke, sind immer noch Antichristen.
Wir sind jedenfalls beeindruckt von der Gärtnerei, kaufen frischen Salat und anderes. Wir erfahren, dass Kompost mit einer uralten Dampfmaschine vorbehandelt wird. Danke an Dora und Werner, auch für offene und deutliche Worte zur Vergangenheit. Die Anlage ist heute angeblich viele Millionen wert. Hoffentlich dürfen die, die alles aufgebaut haben, lange und mit ihrer uns völlig fremden Weltsicht unbehelligt dort leben. |
Der immer noch bibeltreue Glauben heutiger Bewohner wirkt auf uns nicht überzeugend, aber wir haben auch ein völlig anderes Leben gelebt. Und wir sind froh, dass wir so leben dürfen, wie wir es tun.
Geschrieben über das Lager in Chile und die Deckung durch deutsche Stellen hat bereits 1988 Gero Gemballa das Buch <Colonia Dignidad> Ein deutsches Lager in Chile. In ihm berichten auch ehemalige Führungskader, die selbst geflüchtet sind, vom Horror, den Jürgen Szurgelies und andere Bewohner erlebt haben. Wirklich befreit wurde das Lager durch chilenische Behörden erst 2005, also je nach Lesart 20 bis 40 Jahre nach Aufdeckung der Taten des Schäfer, der sich in der Anlage tot stellte und gleichwohl von der deutschen Botschaft 1985 einen neuen Pass erhielt.
Jürgen, wir bleiben gerne mit dir in Kontakt und berichten dir von unseren Reisen. Bleib, wie du bist!
Geschrieben über das Lager in Chile und die Deckung durch deutsche Stellen hat bereits 1988 Gero Gemballa das Buch <Colonia Dignidad> Ein deutsches Lager in Chile. In ihm berichten auch ehemalige Führungskader, die selbst geflüchtet sind, vom Horror, den Jürgen Szurgelies und andere Bewohner erlebt haben. Wirklich befreit wurde das Lager durch chilenische Behörden erst 2005, also je nach Lesart 20 bis 40 Jahre nach Aufdeckung der Taten des Schäfer, der sich in der Anlage tot stellte und gleichwohl von der deutschen Botschaft 1985 einen neuen Pass erhielt.
Jürgen, wir bleiben gerne mit dir in Kontakt und berichten dir von unseren Reisen. Bleib, wie du bist!